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Im Sommer 2019 besuchte ich bei einem weltbekannten Opernfestival eine Vorstellung der romantischen Oper Salome mit Starbesetzung, und ich war - wieder einmal - hellauf begeistert von der hervorragenden Qualität der Aufführung und der Künstler. Als ich nach der Vorstellung bei wunderschönem Wetter die Treppen des Opernhauses herunterging, sah ich etwa 200 Jugendliche und StudentInnen, die auf den Treppen Bier und Wein tranken und einen schönen Abend genossen; es tat mir sehr leid, dass sie nicht auch in den Genuss dieser wunderbaren Aufführung kommen konnten. Warum gingen diese jungen Leute nicht auch in das Opernhaus? An den Eintrittspreisen lag es bestimmt nicht alleine. Dies veranlasste mich zum Nachdenken. Was fehlt den jungen Menschen in der Oper - und wie können wir sie für diese einzigartige Kunstform gewinnen? Trotz aller Jugendförderung, einem guten Marketing und in Deutschland wieder steigenden Zahlen von Opernbesuchern ist die derzeitige Situation nicht das erstrebenswerte Ziel.
Oper und Lebenswirklichkeit
In der Oper Salome sieht sich ein König gezwungen, die Tötung eines Menschen anzuordnen, um gegenüber einer schönen Tänzerin nicht wortbrüchig zu werden. Die tragische Handlung der Oper wird durch die Strausssche Musik ins Grandiose gesteigert. Inhalt und Form ergänzen sich so zu höchster Kunst.
Aber wollen und können junge Menschen ohne umfassende Hör- u. Seherfahrung diesen Zusammenhang sehen? Oder stört es sie, dass der in der Oper dargestellte Seelenkonflikt weit abseits ihrer Lebenswirklichkeit liegt?
Sicherlich, ein Teil des Opernpublikums geht gerade deshalb in die Oper, weil es den Abstand vom Alltag sucht und diesen beispielsweise im Genuss der musikalischen Ausgestaltung einer biblischen bzw. literarischen Legende findet. Sicher möchte ein weiterer Teil des Publikums - wie auch wir Künstler - unser großartiges und einzigartiges Kulturgut, das für uns da ist und das uns prägt, wertschätzen und pflegen. Und gerade deshalb wünsche ich mir auch eine Oper, welche die junge Generation nicht vergisst, welche die Fragen ihrer Zeit in den Mittelpunkt stellt, eine Oper, die eben für sie da ist, und damit auch für alle Anderen. Der jungen Generation nicht nur eine Stimme verleihen, sondern dieser auch zuhören, ohne ein zeitgenössisches Werk als “Jugendoper” zu degradieren.
Pflege der Alten Musik
Ein kurzer Einblick in die Geschichte der Aufführungen von Alter Musik: Seit der Gründung der Academy of Ancient Music in London in der Mitte der 1780er-Jahre, bei der nur Musik aufgeführt wurden durfte, die älter als 20 Jahre war, wurde Alte Musik hoffähig. Das Ziel war damals die Pflege der Musik von Georg Friedrich Händel; auch Haydn litt damals unter diesen Bestimmungen bei seiner ersten London-Reise zu Beginn der 1790er-Jahre. Die 20-Jahre-Regel wurde später in London zu 30 Jahren erweitert etc. - das übergeordnete Ziel war, Händels Musik zu Präsenz verhelfen. Felix Mendelssohn-Bartholdy brachte dieses Konzept dann nach Deutschland und programmierte in den 1820er-Jahren als Musikdirektor des Gewandhauses mehrere vier- bis sechswöchige Konzertreihen, bei der Alte Musik aufgeführt werden sollte (hier begann u.a. die berühmte Bachpflege). Diese Konzerte wurden damals vom Publikum nur halbherzig angenommen; halbleere Konzertsäle und kritische Stimmen von der Presse wurden laut. Wie könnte man wochenlang nur Alte Musik spielen und keine aktuellen Werke lebender Komponisten programmieren?
Wandel in den letzten 200 Jahren
Wie wir alle wissen, hat sichdie Situation seitdem komplett verändert. Heute zählt Alte Musik (hier: Musik, die vor mehr als 20-30 Jahren komponiert wurde) zum gängigen Klassikrepertoire; Uraufführungen und besonders Wiederaufführungen von zeitgenössischen Werken sind die Seltenheit. Die Situation im Konzertbereich ist auf einem guten Weg: Zahlreiche KomponistInnen werden mit Kompositionswünschen beauftragt, dazu teils bereits uraufgeführte Werke wiederaufgeführt und spätestens nach den vielen Jahren voller intelligenter Konzertprogramme, die Simon Rattle als Chefdirigent bei den Berliner Philharmonikern aufsetzte, gehört nahezu zu jedem Konzertprogramm ein zeitgenössisches Werk, wenn eine Institution innovativ wirken möchte.
Zeitgenössische Oper - zu teuer?
Im Opernbereich ist dies jedoch leider anders. Manche großen Häuser beauftragen alle zwei bis drei Jahre einen Komponisten, eine Uraufführung zu schreiben; die Handlung ist jedoch meist ein Libretto mit einem nicht aktuellen, nicht gesellschaftsrelevanten Inhalt. Warum ist das so? Opernhäuser begründen dies mit Kosten, die teils sehr hoch sind, wenn Uraufführungen im Großen Haus anstehen; oder man verschiebt die zeitgenössische Oper in die Kammeroper, um weniger Ausgaben zu haben und ein geringeres finanzielles Risiko einzugehen. Die Möglichkeiten einer großen Reichweite bzw. einer Starbesetzung sind dadurch meist äußerst begrenzt und die gesellschaftspolitischen Auswirkungen für die Menschen in Stadt und Umland gering.
Die erfolgreichen Zeiten der Gattung Oper
Warum werden heute keine Opern konzipiert, deren Handlungen unsere Gesellschaft repräsentieren und Probleme der heutigen Zeit aufzeigen? Was hinterlassen wir Opernschaffende unseren Nachkommen aus unserer heutigen Zeit? Gelöschte E-Mails, Autographen als Sibelius-Datei, zeitgenössische Opern über Karl V., und moderne Inszenierungen unserer Repertoire-Opern, die oft gewollt modernisiert werden (und äußerst selten wirklich passen), da man realisiert, dass moderne und aktuelle Elemente in einer Handlung gebraucht werden? In den erfolgreichen Zeiten der Kunst (u.a. auch der Oper) wurde immer die Gesellschaft und deren Probleme in Opern thematisiert: Als Mozart spitzbübisch und nicht offen, sondern mit Witz und Charme versteckt seine Herrscher kritisierte, Beethovens Fidelio die französische Revolution und den Freiheitsdrang dieser Zeit abbildete, Hänsel und Gretel die Zeit der aufkeimenden Nationalgedanken repräsentierte und Arnold Schönberg die Maschinen der Industrialisierung in seiner Musik zum Klingen brachte… und heute?
Direkt in die Mitte der Gesellschaft
Es ist mein Ziel, die Oper wieder in die Mitte der Gesellschaft zu bringen. Das Opernhaus soll ein Ort sein, wo neben den Märchen und der wichtigen Pflege des Repertoires Menschen diskutieren, sich austauschen und neue Ideen sowie ein stärkeres Bewusstsein für eine offenere oder vielschichtigere Weltsicht bekommen. Ein Ort, an dem wir Künstler eine Möglichkeit haben, unsere Meinung über Gesellschaftspolitik, soziale Gerechtigkeit und aktuelle Ereignisse in unserer musikalischen und theatralischen Sprache zu thematisieren. Ein Ort, an dem Menschen nicht von Politikern in Talkshows, sondern von Künstlern des Opernhauses neue Impulse erhalten und unterschiedliche Auffassungen und Denkweisen erfahren, um ihre Überzeugungen zu überdenken und sie infolgedessen besser artikulieren zu können. Ein Ort, an dem in der zeitgenössischen Musik auch wieder gelacht werden darf, an dem satirischer, ironischer oder unter Umständen auch derber Humor ausgelebt werden darf - die Themen unserer Zeit sind meist ernst genug. Wie wäre es also beispielsweise mit einem Revival der Operette (mit dem Nebeneffekt, auch neue Opernbesucher anzuziehen)?
Klimaoperette in Hamburg
Ausgehend von einer Kammeroper im vergangenen Mai an der Hamburger Staatsoper, an welcher der Intendant den Mut zeigte, ein Künstlerkollektiv - mich eingeschlossen - zu engagieren, das sich mit aktuellen Themen der heutigen Zeit auseinandersetzte, werde ich zusammen mit der Hamburger Regisseurin Maike Schuster im Dezember eine Operette uraufführen, welche die Herausforderungen unserer Zeit bezüglich des Klimas und der Umwelt thematisieren wird (13.-15.12., Hamburg, Theater in der Marzipanfabrik). Mit der Programmierung aktueller Themen möchte ich zusätzlich zum existierenden Klassikpublikum besonders die jungen Menschen einer Stadt ansprechen, sie für die Kunstform der Oper begeistern und ihnen somit auch das Verständnis für älteres Repertoire öffnen. Jede Bemühung auf diesem Weg, die lange Tradition der Aktualität in der Oper wiederzubeleben, begeistert mich. Durch friedlichen Meinungsaustausch wachsen wir alle in unseren Ansichten, in unserer Weltanschauung und in unseren Werten, welche wichtige Grundpfeiler für ein harmonisches Zusammenleben unserer Gesellschaft sind. Die Oper kann maßgeblich dazu beitragen!
Ingmar Beck, 19.09.2019